`...Eines Tages erhielten alle noch vorhandenen Einwohner von Liegnitz den Befehl, binnen 24 Stunden die Stadt zu verlassen. Das war drei Wochen nach unserer Wiederankunft in Liegnitz.
Meine Mutter nahm mich auf den Rücken, eingebunden in das geflickte Federbett. In der Einkaufstasche trug sie ihre Papiere und ein wenig Unterwäsche. Diesmal zog der Treck unter berittener polnischer Bewachung zu Fuß in Richtung Görlitz.
Übernachtet wurde unter freiem Himmel auf Feldern. Ein paar alte Männer, als Frauen verkleidet (auch die alten Männer waren in Gefahr, als "Nazis" erschossen zu werden) bauten manchmal schützende Hütten aus "Schneereitern". Im Straßengraben lagen immer wieder tote alte Leute und kleine Kinder. Eines Morgens waren die berittenen Polen fort. Der Treck zog in kleinen Gruppen weiter. Einmal verschaffte uns ein Mann Plätze auf einem offenen Güterwagen. Er war schon voll besetzt mit Menschen. "Nicht sprechen! Es sind Polen; sie d�rfen nicht wissen, dass ihr Deutsche seid," sagte er. Ich muss aber, während der Zug fuhr, doch etwas zu meiner Mutter gesagt haben, denn wir bekamen auf einmal von überall St�öße. Das war nicht ungefährlich, weil der Güterwagen keine Wände hatte. Wir saßen mit baumelnden Beinen am Rande der Ladefläche. Als der Zug einmal anhielt, krochen wir eilig von der Wagenfläche. Irgendwie kamen wir in Görlitz an. Dort wusste niemand mit den vielen Vertriebenen etwas anzufangen. In einer Nacht wollte meine Mutter mit mir in die Neiße springen. "Darf man das denn?" soll ich sie gefragt haben. Diese kindliche Verwunderung habe sie zur Besinnung gebracht, sagte meine Mutter später. Von Görlitz wurden wir zu Fuß nach Cottbus geschickt. Züge fuhren nicht. In Cottbus fanden die Freundinnen meiner Mutter Unterkunft bei einer Verwandten. Wir zogen allein weiter, irgendwohin. Einmal kam uns eine kleine Gruppe sonderbarer Menschen entgegen. Sie hatten "Schlafanzüge" an, bewegten sich sehr langsam und sahen aus wie der Tod in meinem Märchenbuch. Meine Mutter zog mich ängstlich zur Seite. Einer der sonderbaren Menschen streckte mir die Hand entgegen. Auf der offenen Handfläche lag ein kleines Stück Brot. "Iß! Du musst wachsen," sagte der Mann. Noch bevor meine Mutter etwas sagen konnte, hatte ich das Brot in der Hand und kaute. Das war meine Begegnung mit einem KZ-Häftling, der überlebt hatte! -
Ich wurde immer schwächer und konnte nicht mehr laufen. Meine Mutter tauschte bei einem Bauern eine Spitzendecke gegen einen hochrädrigen Kinderwagen aus der Zeit um 1900 Darin lag ich und ließ die Beine heraushängen. Im Sorbischen nahm uns ein Bauernehepaar ein paar Tage bei sich auf. Ihr Sohn war im Krieg gefallen und sie hätten uns gern behalten. Der sorbische Bürgermeister des Dorfes erlaubte es aber nicht, weil wir Deutsche waren. Der Sommer 1945 war heiß. Der Asphalt schmolz unter den nackten Füßen, wir hatten nichts zu essen und kauten Sauerampfer. Hin und wieder versuchten wir zu betteln, aber weder meine Mutter noch ich konnten es besonders gut. Schließlich trafen wir wieder in Cottbus ein, suchten unsere Bekannten und erfuhren, dass sie in einer anderen Stadt untergekommen waren. Auf dem Meldeamt gab man uns einen "Marschbefehl" nach Teltow. Auf diesem Teil des Weges kamen wir durch viele Wälder. Sie waren zerschossen oder abgebrannt. Mit uns zogen andere Vertriebene oder sie kamen uns wieder entgegen.
Niemand wollte uns, niemand brauchte uns.
Die Bauern jagten uns davon, wenn wir um ein Nachtlager in der Scheune baten. Sie riefen "Lumpenpack! Geht hin, wo ihr hergekommen seid!" und hetzten die Hunde auf uns. Es war auch nicht gut, allein zu "trecken". Immer wieder wurden wir von plündernden russischen Soldaten belästigt. Eine g u t e Erinnerung habe ich noch: Uns zog ein singender Trupp russischer Soldaten entgegen. Es gab keine Möglichkeit auszuweichen. Ein Soldat, der dicht an mir vorbeimarschierte, bückte sich, drückte mir etwas in die Hand und legte den Finger an die Lippen. Was ich in der Hand hielt, fühlte sich glitschig an: "Speck!" sagte meine Mutter. In einer kleinen Stadt stiegen wir in einen Güterzug! "Der fährt aber nur bis Falkenberg", sagte ein Eisenbahner. Falkenberg! Ich erinnerte mich: Da wohnten doch jetzt unsere Freunde aus Liegnitz! Ich hatte sogar den Namen der Ärztin behalten, bei der sie untergekommen waren. Der Eisenbahner war aus Falkenberg, er kannte die Ärztin und beschrieb uns den Weg. Wir krochen über die Schutthalden des zerstörten Falkenberger Bahnhofs, ein Rad des Kinderwagens bekam dabei eine Acht. Trotz Dunkelheit fand ich den beschriebenen Weg und brachte meine Mutter sicher an das Ende unserer Wanderung.
Wir waren 10 Wochen auf deutschen Straßen umhergeirrt! ... `
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